Das Licht bleibt an! – Interview mit einem Fahrradhelm
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Guten Tag, Sie sind also der Neue? Sie sehen recht blass aus.
Korrekt, deshalb wurde ich erwählt.
Was ist aus ihrem Vorgänger geworden?
Oh, er hat sich in seiner relativ kurzen Dienstzeit neulich hervorragend bewährt. Allerdings ist er dabei etwas aus der Form geraten.
Ja?
Er konnte mir die Geschichte noch erzählen, hier oben, wohin er sich zurückzog, um zu vergessen.
Nun?
Eines morgens auf dem Dienstweg, kommt es nach unerwarteter Kollision mit einem fremden Fahrrad zu einem Sturz auf dem Radweg. Der Vorgänger befindet sich plötzlich in engem Kontakt zum Asphalt. Ein scheußliches Material, wie ich finde, aber die Reifen behaupten genau das Gegenteil. Ansichtssache. In seiner Erinnerung wiederholt sich dieser Vorgang zeitlupenartig mehrfach. Dann spürt er diesen Knacks. Aufstehen, Licht anlassen! Murmelt benommen die Trägerin.
Oh!
Dank der guten Stabilität meines Vorgängers – ich gehöre einer ähnlichen Baureihe an – ist der Kopf heil, ein wenig geschüttelt allerdings, was zu vorübergehendem Brummen führt. Das Gesicht bekommt eine handtellergroße Hässlichkeit für einige Tage und die Klienten fragen, ob es sich hierbei um den giftigen Blutpilz handelt. Die schöne Fahrradjacke zerreißt.
Und nun?
Die Jacke ist wie das Antlitz unter nicht erkennbarer Narbenbildung verheilt, die Trägerin sitzt wieder mit dem scharfen Messer am blanken Tisch und ich gebe mich auf meinen Dienstreisen interessanten wie alarmierende Beobachtungen hin.
Nämlich?
Fahrradwege sind gefährlich. Meine Trägerin hat vorsorglich eine Art Korb vorne angebracht. Der dadurch entstehende Eindruck entschleunigender Häuslichkeit stärkt die Unschuldsvermutung.
Aha.
Allein an den ersten drei Diensttagen sind mir – auf dem Radweg wohlgemerkt – plötzlich aus dem Hausflur an Schnippsileinen ins Freie schießende Hunde, die von Frauen im Outfit von Selbstmordattentäterinnen gehalten werden, begegnet, rechtsabbiegende, nicht blinkende Autos, eine unsichere Mutter mit Kleinkind auf dem Rad, beide ohne Helm, weil das Kleine diesen einfach nicht mag, die Mutter aber das Rad kaum steuern kann. Ältere Mitbürger zu Fuß, die von der Existenz von Radwegen nichts wissen, plötzlich aufgerissene Autotüren, gefolgt von einer Entschuldigung, dass wegen des eingeklappten Rückspiegels er schließlich keine Möglichkeit habe, zu sehen, was, blablabla…
Unglaublich!
Hach, meine Trägerin fährt in ihrer gewiss angeborenen Schüchternheit tapfer und anmutig an all dem Unbill vorbei, während ich mich treu an ihre Kalotte schmiegen darf.
Versöhnlich. Übrigens, dieser Ort hier…
Ja, meine Trägerin nennt ihn den Platz der langen Zeiten. Sie hängen in den Balken, liegen in staubdicken Ecken und warten auf eine Erneuerung ihrer Bestimmung. Ich bin gerne hier. Mit ihr.
Verstehe. Kennen Sie Soylent Green? Vielen Dank für das Gespräch.
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